Gedankenfrüchte
Gedankenfrüchte

Trennklotz

Ich weiß, ich bin nur ein grober Holzklotz und liege Tag für Tag faul auf dem Band im Supermarkt. Die Kunden wissen nicht einmal, wie sie mich nennen sollen. 
Trennklotz, ich bin ein Trennklotz! Ist doch ganz einfach, denn ich passe auf, dass sich ihre Waren nicht mit denen des Vordermannes vermischen. Auf diese Arbeit bin ich sehr stolz.
Man könnte meinen, dies sei ein langweiliges Leben, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Jeden Tag erlebe ich die unglaublichsten Geschichten.

An meinem Rollband sitzt, wenn sie nicht gerade mal wieder krank ist, Erika an der Kasse. Wir kennen uns seit zweiundzwanzig Jahren. Damals war sie noch jung und hübsch, hatte ein tolles Figürchen und war immer freundlich. Ich bewundere sie, denn das Beste davon, nämlich ihre Freundlichkeit, ist bis zum heutigen Tag geblieben, obwohl sie einiges durchgemacht hat. Vier Kinder hat sie bekommen und dann starb ihr Mann. Vier Kinder zu ernähren und die Erziehung allein zu meistern, das empfinde ich als Meisterleistung.
Mein Kollege, auf dessen Rücken "Cola" aufgedruckt steht, findet Erika furchtbar. Er lästert unablässig über sie. 
"Siehst du ihre Zahnlücke, wenn sie lacht? Igitt! Und Lachen kann man das Gewieher auch nicht nennen. Sie erinnert mich eher an einen Ackergaul, als an eine Kassiererin."
"Ach hör doch auf, Cola! Sie ist eine wunderbare Frau. Egal wie es ihr geht, immer ist sie zu allen Kunden freundlich und hilfsbereit. Du weißt doch, was für eine Geduld sie hat. Wenn die zittrige Frau Melcher eine Ewigkeit braucht, um ihr Kleingeld herauszupulen, hat Erika eine Seelenruhe. Quengelnde Kinder lenkt sie ab, damit ihre Mütter in Ruhe einpacken können. Sie zieht die Waren auch nicht so grob übers Band wie ihre Kolleginnen. Ohne Murren wechselt sie Geld in passende Münzen für den Einkaufswagen. Gut, hier und da hält sie ein Schwätzchen, aber das gefällt den Leuten doch. Deshalb mögen die Kunden sie auch so sehr. Außerdem mag ich die Schlager, die sie nebenbei singt."
"Mensch Dr. Oetker," mault er mich an, "du mit deiner Erika. Singen nennst du das? Mir tun die Ohren und die Augen weh. Siehst du auf ihrer Schürze die Reste der Hamburgersoße, die sie in der Mittagspause vergebens versucht hat, wegzuwischen? Kann sie dann nicht einfach eine frische Schürze anziehen? Und die Chipskrümel, deren Packung unter ihrer Kasse liegen, verteilt sie überall. Verfressen, fett und schmuddelig ist deine Erika, jawohl! Mich graust es, wenn sie mich mit ihrer feuchten, fettverschmierten Hand berührt. Brrrrr!"
Ich fasse es nicht, wie er über sie spricht!
"Cola, halt deine Klappe! Das verstehst du nicht. Außerdem ist es viel schlimmer von der eiskalten Raucherhand der dünnen Regina angefasst zu werden. Als ob ich an einer Stelle zu schmoren anfange, so ein ekelhafter Gestank ist das."
Er hält tatsächlich seine Klappe. Vielleicht ist er da einmal meiner Meinung.

Heute ist Dienstag. Ein ruhiger Tag. Cola und ich verrichten gemütlich unsere Arbeit. Erika scherzt mit den Kunden und wenn gerade keiner da ist, probiert sie die neuen Wasabichips. Die sind scharf, so dass sie ständig trinken muss. Mich stören die kleinen Apfelsaftspritzer nicht, aber Cola mosert schon wieder rum. Da kommt Erikas Tochter an die Kasse.
"Mama, hast du die schöne Puppe da hinten gesehen? Kannst du mir die kaufen? Bitte!"
"Schatz, ich kann dir heute keine Puppe kaufen. Du hast weder Geburtstag, noch ist Weihnachten. Außerdem hab ich gerade kein Geld mehr auf dem Konto."
Die Kleine verzieht ihr Gesicht und stampft auf den Boden.
"Mama, du bist so gemein! Nie bist du zu Hause, immer musst du arbeiten, arbeiten, arbeiten... Nur wegen dem Geld, sagst du immer, aber du hast trotzdem nie welches. Du bist eine ganz gemeine Lügnerin!"
Oh je, ich sehe Erikas feuchte Augen. Sie wischt sich eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht.  "Du weißt doch, ich..." dann verstummt sie, weil sie die Träne auf der Kinderwange sieht.
Erikas Wangen röten sich. Hektisch schaut sie nach links und rechts.
Dann beugt sie sich nach vorne und flüstert: "Ach mein Schatz, dann nimm sie dir. Ich bezahle sie später. Und jetzt wisch deine Tränen weg!"
Das Mädchen rennt nach hinten, schnappt die Puppe und lässt sie sich von Erika in eine Tüte stecken. Ein strahlendes Lächeln verzaubert ihr verschmiertes Gesicht.
"Hast du das gesehen?" schreit Cola mir entgegen. "Erika hat die Puppe nicht bezahlt. Das ist Diebstahl, ja, deine Erika ist eine dreiste Diebin!"
Dieser verdammte Trennklotz. Totes Holz, ohne Herz!
"Sie wird sie schon noch bezahlen, jetzt reg dich nicht so auf," maule ich ihn an. Doch ich weiß, dass sie das nicht tun wird. Die Turnschuhe letzte Woche hat sie auch nicht bezahlt, ebenso wie die Thunfischpizza und den Haarreif mit den rosa Herzchen, der ihrer Tochter so gut steht.

Manchmal bin ich froh, einfach nur ein stummer Holzklotz zu sein. Da ich meine Erlebnisse niemand erzählen kann, muss ich sie für mich behalten. Und wenn eines Tages mein Ende gekommen ist, werde ich alle Geheimnisse mit ins Feuer nehmen.

 

 

 

 

 

 

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© Beate Treutner