Gedankenfrüchte
Gedankenfrüchte

 



Ich sehe `was!

 

 

 

Letztes Wochenende war wieder einmal Flohmarkttag. Ich liebe es, von Stand zu Stand zu schlendern, Dinge zu entdecken, die eine geheime Geschichte haben und wundersame Menschen zu beobachten. So wie diesen Verkäufer, den ich hier noch nie gesehen hatte. Er trug einen orangefarbenen Turban, eine gelbe Pluderhose und im Gesicht einen tiefschwarzen Bart, der links und rechts in einem geschwungenen Bogen nach oben zeigte. Er sah aus, als sei er einem orientalischen Märchenbuch entsprungen, keineswegs lächerlich, sondern faszinierend anders.

Er war umgeben von Wasserpfeifen, gold verzierten Teetassen, bunten Stoffen und sonstigem Krimskrams, der überall verstreut herumlag. In einem Korb entdeckte ich einen wunderschönen Handspiegel. Er war in rot lackiertes Holz eingefasst und mit vielen glitzernden Steinen besetzt.

Ich fand ihn hübsch. »Wie viel wollen sie dafür haben«, fragte ich ihn. 

»Sechzig Euro!« Ich schluckte. Höchstens sechs hätte ich geschätzt. Er legte den Spiegel in meine Hand, schaute mir tief in die Augen und meinte verschwörerisch: »Selbst wenn ich sechstausend verlangen würde, entspräche das nicht seinem wahren Wert. Der Spiegel ist nämlich etwas ganz kostbares. Es ist ein Zauberspiegel.« Mein Interesse war geweckt. 

»Wie meinen sie das? Was kann ich damit zaubern?«, fragte ich neugierig. 

»In diesem Spiegel kann man sehen, was man will. Fern von Zeit und Raum. Das Problem ist nur…«, er verzog sein Gesicht, als müsse er gleich heulen, »das Problem ist, dass ich vergessen habe, wie man die Zauberkraft auslöst. Muss man den Spiegel in die rechte Hand nehmen, oder war es doch die Linke?, und mit dem Handgelenk von rechts beginnend dreimal hin und her schwenken? Oder doch mit links beginnend, fünfmal schwenken? Ach… es ist eine Schande, ich hab es einfach vergessen.« Er nahm den Spiegel wieder an sich und drehte ihn hin und her.

»Ich habe schon alles ausprobiert, aber ich finde es einfach nicht mehr heraus. Deshalb auch dieser schändlich niedere Preis. Ohne diese Gebrauchsanweisung ist er einfach nur ein hübscher Spiegel.«

»Können sie denn bezeugen, dass er schon einmal funktioniert hat?« 

»Aber ja, ich habe darin meine Großmutter gesehen, die ich nie kennen gelernt habe. Sie starb bereits vor meiner Geburt. Man erzählte mir von ihrem wunderbaren Lächeln und ihrer atemberaubenden Schönheit. Das wollte ich sehen und mit dem Spiegel konnte ich mich davon überzeugen.«

Ich wollte den Spiegel unbedingt haben und fing zu handeln an. Zum Schluss bekam ich ihn immerhin für die Hälfte. Wahrscheinlich hat er dabei immer noch ein gutes Geschäft gemacht und lacht sich heimlich ins Fäustchen, wie gut seine Verkaufstaktik funktioniert hat, dachte ich mir. Aber mir gefallen solche Geschichten und somit war ich ein leichtes Opfer.

Zuhause betrachtete ich den Spiegel ganz genau. Er war wirklich sehr hübsch. Nirgends war Farbe abgeblättert und kein Glitzersteinchen fehlte. Ich sah mich im Spiegelbild.

Was würde ich in so einem Spiegel gerne sehen, überlegte ich. Wenn man sehen kann, was man will. Ich könnte versteckte, verschwundene Dinge finden, Schätze, vermisste Personen. 

In die Vergangenheit sehen und in die Zukunft. Die Lottozahlen von morgen. Ob mein Mann wirklich beim Handball war. Meinen Grabstein. 

Nein! Das wollte ich auf keinen Fall. Mein Bauch krampfte sich zusammen. Was für eine Macht hätte ich da, wenn er funktionieren würde. Was wäre, wenn er in falsche Hände käme?

Mir taten sich ungeahnte Möglichkeiten auf und manche machten mir große Angst.

Ich würde lieber etwas Fröhliches sehen wollen oder etwas Außergewöhnliches, überlegte ich. 

Aber was? In meinem Kopf arbeitete es schwer. Irgendwann fiel es mir ein: Ich hatte schon immer diese verrückte Idee eines Tages einen Außerirdischen sehen zu wollen. Mein ganzes Leben lang habe ich nachts in den Himmel geschaut in der Hoffnung, mit eigenen Augen ein Ufo zu entdecken.

Ich nahm den Spiegel in meine rechte Hand und drehte ihn locker aus dem Handgelenk einmal hin und her.

Dann schämte ich mich. Mensch, du bist eine erwachsene Frau und glaubst an solche Märchen?, sprach meine Vernunft-zentrale. 

Warum nicht?, widersprach mein kindliches Gemüt.

Der Spiegel wurde immer wärmer in meiner Hand. Ich schaute hinein aber plötzlich war mein Spiegelbild verschwunden. Stattdessen sah ich grauen Nebel, in dem winzige farbige Lichtpunkte, wie Glühwürmchen in der Nacht, wild durcheinander wirbelten. Sie bildeten Gruppen, lösten sich wieder auf, als würden sie tanzen…

Mein Kreislauf spielte anscheinend einen Streich mit mir. Ich holte tief Luft und legte den Spiegel schnell zur Seite.

 

Den ganzen Tag wollte ich ihn nicht mehr anfassen. Hatte ich den Zauber gelöst, das Rätsel gefunden? So einfach? Was hatte ich da gesehen? Niemand weiß, ob es außerirdisches Leben gibt, und schon gar nicht, wie es aussieht. Vielleicht sind es Lichtwesen. Habe ich etwas gesehen, wofür die Wissenschaft alles geben würde?

Oder hab ich zuviel Fantasie? Der Spiegel war mir unheimlich.

Am Abend kam meine Freundin Carola.

»Was ist das denn für ein wunderschöner Spiegel?«, sagte sie und nahm ihn in die Hand.

»Ach, lass das Ding lieber in Ruhe. Es soll anscheinend ein Zauberspiegel sein, aber mir macht er Angst.«

Carola lachte. Mir war klar, dass sie so einen Humbug niemals glauben würde. Sie betrachtete ihr hübsches Gesicht, überprüfte ihre Zähne, verzog ihre Lippen und kontrollierte, ob der Lippenstift nicht verschmiert war. Sie machte sich darüber lustig und sagte: »Das ist wirklich ein Zauberspiegel. Ich sehe einfach zauberhaft darin aus.« Dann fuhr sie mit der Fingerkuppe einer kleinen Falte nach und meinte scherzhaft: »Ich wüsste zu gerne, wie ich in fünfundzwanzig Jahren aussehe.« Grinsend schüttelte sie den Spiegel und sah nochmals hinein. Doch plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck ganz starr. Dann stieß sie einen markerschütternden Schrei aus und der Spiegel fiel zu Boden.

»Carola, um alles in der Welt, was hast Du denn gesehen?«, fragte ich entsetzt. Carola war schneeweiß im Gesicht und stammelte.

»Mensch, hab ich mich erschreckt. Ich brauche jetzt dringend einen Schnaps.«

Mit zitternder Hand hob ich den Spiegel auf. Das Glas war zerbrochen.

»Den werfe ich jetzt weg«, sagte ich zu Carola und reichte ihr ein gut gefülltes Gläschen. Sie lachte befreit.

»So einen blöden Scherzartikel habe ich noch nie gesehen«, stammelte sie und kippte den Schnaps herunter. Ich ließ sie in dem Glauben und war sogar froh, dass er zerbrochen war. 

 

Eine solch unbeschreibliche Macht möchte ich nie und nimmer haben.

Eine Homepage ist nie "fertig".

Sie ist in ständigem Wandel. So gibt es bei jedem Besuch immer wieder was Neues zu entdecken.

 

 

 

 

 

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© Beate Treutner